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Lerge Breslau Texte

24. September 2013 , Geschrieben von Max Strammer

Lerge Breslau Texte

(K)eine Fabel

Ein Mann sprach zu einem Pfau:
"Tu mir den Gefallen und gib mir eine Feder;
ich will sie meiner Braut schenken,
mich ihrer Liebe zu versichern.

"Da wurde der Pfau boese,
er sprang dem Mann auf den Kopf,
bearbeitete ihn mit dem Schnabel,
schlug ihn mit den Fluegeln
und zerkratzte ihm das Gesicht.

Ein anderer Mann kam,
der gab dem Pfau ein Zuckerbrot und sagte:
"Was hast du fuer ein schoenes Gefieder.
Doch dein Leib ist vergaenglich -
es waere schade,
wenn auch deine Federn dereinst zu Staub wuerden,

Gib mir deinen Balg, ich will ihn ausstopfen
und auf die Weltausstellung nach Paris bringen.
Alle sollen deine Schoenheit bewundern.

"Der Pfau gab ihm seinen Balg.
Seither ist er nackt - und er friert.

Moral:
Wem kleine Opfer sind zuviel,
der haelt bestimmt bei groesser'n still.


[- lerge breslau -]

Lerge Breslau Texte

Die Zukunft von der Vergangenheit befreien?
Die Vergangenheit von der Zukunft befreien?


„So mancher Mensch fühlt sich in einer Zeit so glücklich, daß er meint, es gäbe keinen zweiten, der über so viel Glück verfügt. Solcher Mensch träumt! Er erwacht dann und hält Umschau, er reibt sich die Augen, damit er den Rest des Schlafes, nein: des Traumes fortwische, wie er meint.
Aber es sind keine Schlaf- oder Traumreste, sondern nur Tränen, welche ihm die Erkenntnis, die aus dem Erwachen geboren ist, aus den Augen trieb, damit er klar in die Gegenwart blicke, um für die Zukunft den richtigen Weg zu finden.“ [7] 2)
Karl Meister 1) (1954)

- - -


Werde gegenwärtig!

Da liegen sie nun wieder auf meinem Schreibtisch, die längst vergilbten, vor einem knappen halben Jahrhundert in Sütterlinschrift engbeschriebenen 200 Seiten. Ihr Verfasser: der im Jahre 1900 geborene und kurz nach seinem 65. Geburtstag verstorbene Zimmermann Karl Meister, dessen ganzes Leben, von der Kindheit an bis zum Tode - mit Ausnahme weniger glücklicher Jahre - eine einzige Tragödie war. Kinder- und erste Jugendjahre geprägt durch Not und Entbehrungen. Besonders schlimm die Jahre des 1. Weltkrieges. Noch im letzten Jahre dieses Krieges zum Militär eingezogen, nach dem Kriegsende bald die Inflationszeit, lange und bange Jahre des wirtschaftlichen Niedergangs und der Arbeitslosigkeit, und bald schon, am 26. August 1939, eine Woche vor Beginn des 2. Weltkrieges, Einberufung zur Wehrmacht. Hier wurde er nach eigenen Angaben schon nach wenigen Tagen zum zweifachen Mörder - wenn auch gegen sein Gewissen und ohne jegliche Alternative.
Kurz vor Kriegsende, nun schon im 45. Lebensjahr stehend, geriet er in amerikanische Gefangenschaft, wo er in einem Lager in Frankreich anderthalb Jahre lang teilweise recht menschenverachtenden Verhältnissen ausgesetzt war.
Zur gleichen Zeit, in Abwesenheit, Verlust seiner schlesischen Heimat. Nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft: Niederlassung im Anhaltinischen, geduldig ertragene Krankheit, die nie richtig diagnostiziert und ausgeheilt werden konnte und die zum viel zu frühen Tode führte. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß neben dem physischen Verschleiß durch Kriegsdienst und Gefangenschaft auch die psychischen Belastungen durch Arbeitslosigkeit und soziales Elend, durch Kriegserlebnisse und Heimatverlust seinen rapiden gesundheitlichen Verfall beschleunigt haben.

Karl Meister war ein Mann, der all sein Erlebtes in überaus starkem, fast bedenklichem Maße verinnerlichte und im Bewußtsein behielt. Er befaßte sich immer wieder damit und versuchte, mit einer eigenen, wenn auch etwas hausbackenen Lebensphilosophie Erklärungen zu finden, das Geschehene kritisch zu reflektieren und moralisch zu werten, wobei ihm über weite Strecken die elementaren Lehren der christlichen Ethik und ein gesunder Menschenverstand genügten - nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Bemerkenswert ist, daß er auch Jahre nach dem Kriege weder mit seinen Angehörigen noch mit anderen Menschen über seine Erlebnisse und Probleme, die ihn so stark beschäftigten, gesprochen hat. Dazu war er nicht fähig, fürchtete wohl auch, daß ihn andere nicht verstehen würden und daß sich dadurch seine tiefe Seelenverwundung nur noch verschlimmern könnte.
Meister war ein geistig reger Mensch mit vielfältigen Interessen, dem während der Zeit des Kaiserreiches, der Weimarer Republik und des sogen. 3. Reiches die Möglichkeit einer höheren Bildung versagt geblieben war, der sich im Leben kaum Bücher leisten konnte und der sich dennoch auf so manchem Gebiet autodidaktisch weitergebildet hat. Zum Beispiel hat der gelernte Zimmermann noch während des Krieges - zeitweise hatte er dazu die Gelegenheit - und auch in den ersten Nachkriegsjahren einfache und auch kompliziertere Rundfunkgeräte (von der sogenannten „Goebbels-Schnauze“ über den „Volksempfänger“ bis hin zu anspruchsvollen Superhet-Schaltungen) nachgebaut.
Doch - bei aller intellektueller Beweglichkeit und Regsamkeit - das Kriegserleben saß in ihm zu tief, nagte und fraß an seiner Seele. Kein Wunder, daß er nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft versuchte, all das schriftlich festzuhalten, was ihn im Leben besonders betroffen gemacht hat.
Solchen Kategorien wie Leben, Traum, Erkenntnis, Erinnerung, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wendet er besonders im ersten Teil seiner Aufzeichnungen immer wieder seine Aufmerksamkeit zu. Auch wenn vieles davon einer wissenschaftlichen Kritik nicht standhält, wenn manches gar einer ganz individuellen und subjektiven Religion nahekommt, so ist es doch lehrreich, seine Standpunkte zur Kenntnis zu nehmen. Dies ermöglicht es dem Leser auf jeden Fall, die subjektive Verfassung des Karl Meister bei den Erlebnissen, die er zur Darstellung bringt, mit zu berücksichtigen.
Doch lassen wir ihn hier nun erst einmal selbst zu Wort kommen:

„Wenn jemand zu mir spräche: 'Du Narr! Ist das Leben nicht schön? Bist Du blind oder schläfst Du? Ach, ich sehe, Du träumst.' Ich würde ihm antworten: 'Ich bin soeben erwacht. Aber dort hängt ein Spiegel. Bitte bediene Dich seiner, damit Du gegenwärtig wirst. Werde gegenwärtig! Siehe Dich selber in der Gegenwart und siehe unsere Götterfreundin, die Frau Erkenntnis. Sie zeigt mit einer Hand in die Vergangenheit und mit der anderen Hand in die Zukunft. '
Warum weist die Frau Erkenntnis nicht mit beiden Händen in die Zukunft?
Es wäre ungerecht, wenn sie dies täte. Man muß zurückblicken in die Vergangenheit, um das Gegenwärtige so zu meistern, daß es in Zukunft ein Brauchbares wird. (...) Deshalb sei die Vergangenheit der beste Lehrmeister. (...) Ohne Vergangenheit keine Gegenwart und keine Erkenntnis. Und ohne Gegenwart und Erkenntnis keine Zukunft.“ [4]
Es war im Jahre 1954, als Karl Meister diese Worte niederschrieb. In seinen weiteren Ausführungen wird besonders deutlich, daß es vor allem die unendliche Tragik des im 2. Weltkrieg selbst Erlebten und Durchgemachten war, die den Verfasser dazu trieb, zu Feder und Papier zu greifen, um sich seinen Frust von der Seele zu schreiben, mit sich selbst ins reine zu kommen, und endlich seine innere Ruhe wiederzufinden. Ob ihm letzteres gelungen ist, muß freilich bezweifelt werden. Seine Darlegungen aber sind ein greller Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit, Kulturlosigkeit und Barbarei, gegen eine verbrecherische Politik, die vor Krieg und Menschenmord, ja Völkermord nicht zurückschreckt, wenn es um die Durchsetzung der egoistischen Interessen einer machthabenden Minderheit geht.
Und, ist dem nicht so, daß selbst die Nürnberger Prozesse, dieses große internationale Tribunal, im Grunde genommen nur die „Spitze des Eisberges“ getroffen haben. Wie viele Schreibtischtäter und persönliche Initiatoren von Massenmord sind bis heute nicht zur Verantwortung gezogen worden, gelangten nach dem Kriege wieder in hohe und höchste Ämter und führten bzw. führen noch heute ungehindert ein Leben in Wohlstand und Zufriedenheit, von keinerlei Skrupeln geplagt. Der „kleine Mann“ dagegen, der - wenn er noch Glück hatte (!) - den Krieg überstand, wenn auch als Krüppel, fragt sich, was er denn nun durch seinen „heldenhaften Kampf für Führer, Volk und Vaterland“ gewonnen hat, gewonnen hat für sich und seine Familie, für die Menschheit und die Menschlichkeit. Und gar mancher von ihnen, der gegen seinen eigenen elementaren Willen zum Mörder oder wenigstens zum Beihelfer für den Mord geworden ist, plagt sich bis an sein Lebensende mit Gewissensbissen und persönlichen Schuldgefühlen, leidet an einer verwundeten Seele - unheilbar, weder durch subjektives Verdrängen, noch durch irgendeine Form psychotherapeutischer Behandlung.
Auch Karl Meister gehörte zu diesem Personenkreis.

*


2. Seelentrauma

Karl Meister , der den Krieg fürchtete und zutiefst haßte, der gegen Hitler und die ganze Naziherrschaft eingestellt war, gerade er hatte, noch ehe er sich's versah, als der Krieg noch keine zwei Wochen alt war, zwei Menschenleben auf sein Gewissen geladen.
Er selbst schreibt dazu:
„Mein Abteilungskommandeur war Major Riedel, ein edler Charakter, bei dem ich ähnliche Einstellungen vermutete wie ich sie selbst hatte. (...) Ich habe ihm bei Belagora das Leben gerettet, indem ich selbst zum Doppelmörder wurde. Das war am 11.09.1939, früh um 7.15 Uhr, also 10 Tage nach Beginn des Krieges gegen Polen. Der Herr Major konnte nur gerettet werden, wenn dafür zwei andere Menschenleben ausgelöscht wurden. [56]
(...) Ich kam einem Bauerngehöft von dessen Rückseite her, aus der Deckung näher. Da erblickte ich zwei mit Gewehren bewaffnete Zivilisten, Partisanen. Vor ihnen schritt Major Riedel. Aus dem Mund hing ihm ein Lappen. Ich legte mich geräuschlos hin und wartete auf den günstigsten Moment. Der eine Zivilist legte sein Gewehr ab, während der andere sein Gewehr auf den Major richtete. Der Erstgenannte zog nun einen Strick aus der Tasche und schlug damit dem Major ein paar mal quer übers Gesicht. Dann band er sein Opfer an einem Pflaumenbaum fest. In diesem Augenblick krachte mein erster Schuß. Die Kugel drang dem, der das Gewehr hielt, durch den Kopf. Ich sah sein Zusammensacken, als ich blitzschnell nachlud. Der andere Zivilist drehte sich um und sah, daß sein Kamerad am Boden liegt - da zerriß ihm meine zweite Kugel den Kopf. [61,62]

Das Gewehr neu geladen, sprang ich auf, das offene Taschenmesser in der Hand, rannte zum Major, durchtrennte die Fessel und riß ihm den Lappen aus dem Mund. Major Riedel wollte mir gerade seine Dankeshand reichen, da krachte ein Schuß, und ein mir persönlich sehr nahestehender junger Soldat - er hätte mein Sohn sein können - brach, aus einer Brustwunde blutend, zusammen. Zum Major gewandt, schrie ich: 'Zurück!' Das war das einzige Wort, das ich herausbringen konnte. Zehn Schritt seitwärts von mir lag mein junger Kamerad. Aufrecht rannte ich zu ihm, griff ihn wie ein Bund Stroh und warf ihn über meine rechte Schulter. Sein Blut rann mir zum Jackenkragen hinein. 'Zurück!' brüllte ich dem Major entgegen. Zurück trug ich einen auf meiner Schulter Sterbenden. Ich schritt aufrecht und spürte die Last nicht. Keine Kugel pfiff mir hinterher, und ich hörte keinen Knall. Zurück! Bis zum Dorfrand. Dort, unter einer Pappel, legte ich meine Last ab, vorsichtig, um dem verwundeten Kameraden, ein Kind noch, keine unnötigen Schmerzen zu bereiten. Doch er war bereits tot. Ich drückte ihm seine Augen zu, und aus meinen Augen flossen Tränen. Dort liegt er nun begraben. Er starb auf der rechten Schulter eines vor wenigen Sekunden zum Doppelmörder gewordenen Kameraden, nicht auf fremder Erde! Sein Blut floß über meinen Körper.“ [62]
Dies alles spielte sich in kürzester Zeit ab, in einer Minute, vielleicht in zwei - wer sieht in solcher Situation schon nach der Uhr?
Das Leben des Gefreiten Karl Meister war von diesem Zeitpunkt an ein völlig anderes. Nie wieder würde er von dem loskommen, was über ihn hereingebrochen war. So ist es nur zu gut zu verstehen, wenn er schreibt:
„Würde man mich noch heute (1954) wegen Doppelmordes verurteilen, ich legte mein Haupt widerspruchslos aufs Schafott. Hunderte von schlaflosen Nächten habe ich seit dieser Handlung hinter mir. Keine einzige Nacht ist seitdem vergangen, wo ich nicht meine Gebete für diese beiden Menschen, aber auch für mich an den Herrgott richtete. Und das soll so bleiben bis an mein Lebensende. Ja, durch den Krieg bin ich zum Mörder geworden. Zwei gezielte Schüsse wurden von mir abgegeben, und jeder dieser Schüsse wirkte auf der Stelle tödlich. Meine Seele ist seit diesem Tage mit Menschenblut besudelt!“ [59]
Die Kampfhandlungen wurden von beiden Seiten mit größter Verbitterung geführt, sowohl von den angreifenden faschistischen Soldaten, als auch von den ihr Vaterland verteidigenden Polen. Der einzelne kam dabei oft völlig überraschend in eine Situation, wo er sich in Sekundenschnelle zu entscheiden hatte, oder wo er Dinge zur Kenntnis nehmen mußte, die seine psychische Belastbarkeit, wenn schon nicht seine individuelle weltanschauliche (oder auch seine religiöse) Grundposition total überforderten.
K. Meister legt mit anschaulichen Worten dar, welche Grausamkeiten und wieviel Unmenschlichkeit, auch von gegnerischer Seite, er bereits in der ersten Woche dieses Krieges erlebt hat. So hatte er schon am Tage zuvor Dinge gesehen, die selbst die Psyche eines wesentlich härter gesottenen Mannes überfordert hätten:
Zwei Dörfer vor Belagora war seiner Einheit von Partisanen arg zugesetzt worden. Als die Deutschen schließlich das Dorf eingenommen hatten, bot sich den Kameraden ein grausiges Bild: Ein deutscher Soldat, den die Partisanen einige Stunden vorher gefangengenommen hatten, war in der Kirche, nicht weit vom Altar entfernt, an einem Kronleuchter aufgehängt worden, mit dem Kopf nach unten. In dieser Lage war er mit Knüppeln zu Tode geprügelt worden. Die Knüppel lagen noch in unmittelbarer Nähe des Toten. Und am Ortsausgang lagen am Straßenrand deutsche Soldaten, denen die Augen ausgestochen und die Zungen abgeschnitten worden waren. Meister schreibt darüber:„Ich habe es mit eigenen Augen gesehen - und kein Mensch wird mir dies je ausreden können. Die Täter habe ich freilich nicht gesehen, und ich beschuldige auch nicht irgendeine Nation als Ganzes dieser grausigen Tat. " [57] (Unterstreichung im Original-Manuskript)
Sicherlich nicht zufällig fügt Meister gerade diesen Darlegungen ein weiteres Erlebnis an, in welchem seine persönliche Haltung noch deutlicher wird. Er schreibt:
„Eines Tages rückten wir über einen Fluß. Unendlich lange Schlangen deutscher Soldaten marschierten über die Pontonbrücke, die ursprüngliche Brücke war gesprengt worden. Auf der anderen Seite des Flusses standen tausende polnischer Flüchtlinge. Diese mochten wohl schon seit Tagen dort gewartet haben. Sie wurden von deutschen Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten immer wieder zurückgedrängt, wenn sie über die Brücke ziehen wollten. Die Kinder schrien vor Hunger. Eine Frau aus dieser Menge wagte sich an die deutschen Soldaten heran, hielt ihnen ihre Hände bittend entgegen und sprach die Worte: 'Pan, chleb ...', was soviel heißt wie 'Herr, bitte geben Sie mir Brot ... '
Der vor mir reitende deutsche Soldat hatte eine Reitpeitsche, und mit zwei schnell aufeinanderfolgenden, wuchtigen Schlägen traf er die Frau mitten ins Gesicht. Noch während die Frau ihn ansprach, hatte ich die linke Packtasche geöffnet und warf ihr ein halbes Kommißbrot entgegen. Doch da hatte sie die zwei Hiebe schon erhalten. Dutzende von Menschen, die in der Nähe standen, beobachteten den Vorfall. Was werden sie wohl hinterher gesagt haben:
' Die Deutschen haben die Frau geschlagen '. Aber so war es ja nicht. Es war ein Deutscher und nicht die oder gar alle Deutschen. Und wird etwa einer von ihnen gesagt haben: ' Die Deutschen gaben der Frau Brot.'? Ganz bestimmt nicht. Sie werden gesagt haben: ' Ein Deutscher gab ihr Brot.'
Darum soll man aus der Einzahl keine Mehrzahl machen, ob bei Gutem oder bei Schlechtem. Wegen eines schlechten Menschen darf man nicht eine ganze Nation für schlecht halten. (...) Gleich nach dem Vorfall sagte ich zu dem Tyrannen: ' Was denkst Du wohl, was Du Dir für ein Stück geleistet hast !! Hast Du dabei auch daran gedacht, daß es uns Deutschen einmal so ergehen könnte? '
Seine Antwort: ' Ach, Du dummes Schwein! Du denkst wohl, daß wir den Krieg verlieren?! ' An seinem Rock prangte eine Medaille mit Hakenkreuz. So wußte ich nun, wes Geistes Kind er war. Wenige Stunden später zerriß ihm ein Querschläger seinen Kopf, und sein Gehirn hing ihm aus dem Ausschußloch heraus. Für ihn empfand ich kein Mitleid, ihm drückte ich kein Auge zu ! " [58]
Am anderen Tage gegen zehn Uhr - die Erlebnisse der letzten 24 Stunden waren für Meister doch zuviel gewesen - erwachte er in einem notdürftig eingerichteten Krankenrevier aus einer längeren Ohnmacht. Seine blut- und erdbeschmierte Feldbluse war ihm abgenommen worden, und er erhielt eine andere dafür. An ihr befanden sich Unteroffizierstressen, die Meister freilich nicht zustanden. Aber er hatte es bei der ganzen Aufregung ja auch noch gar nicht mitbekommen. Als er Stunden später wieder vor Major Riedel stand, sagte dieser zu ihm: "Gratuliere , Meister, wie sind Sie so schnell Unteroffizier geworden? "
Erst jetzt bekam Meister die ihm widerfahrene Unregelmäßigkeit mit. Der Major fügte nun hinzu:
„Sie haben es sich verdient, also bleiben Sie es ab sofort.“
Aber Meister entgegnete:
„Danke, Herr Major, aber ich bin kein Weihnachtsbaum. Das Lametta kommt runter. Ich bin und bleibe ein Mensch und sonst nichts weiter. " [69]
Schon zog er die Feldbluse aus und hatte mit seinem scharfen Taschenmesser in wenigen Augenblicken die Tressen entfernt. Das ging dem Major nahe, und er führte den Gesprächsfaden weiter: „Sie sollen zum EK I eingereicht werden.“
Da zwischen dem Major und dem Melder Karl Meister ein gutes persönliches Verhältnis bestand, antwortete Meister:
„Herr Major, dafür habe ich keine Verwendung!“
Später reflektiert er die Situation so: „Gestern habe ich gemordet, heute Unteroffizier sein und als Prämie noch ein Eisernes Kreuz tragen - nein, das durfte niemals meinem Inneren entsprechen! [69]
(...) Anderntags: Wir befanden uns im Gehöft einer polnischen Dorfkneipe. Im Hause selbst war der Major mit seiner Schreibstube untergebracht. Da sagte der Major: 'Kommen Sie mit auf mein Zimmer, Meister, ich muß mit Ihnen sprechen, von Mann zu Mann.'
'Jawohl , Herr Major, sprechen wir endlich einmal von Mann zu Mann, von Mensch zu Mensch.'
In seinem Zimmer legte er mir eine Schachtel Zigaretten vor und hieß mich zu rauchen und den Rest einzustecken. 'Das dürfte wohl klar sein, Herr Major, daß ich die Zigaretten als die meinigen betrachte.'
Der Major:
'Na endlich, jetzt werden Sie wohl bald vernünftig, Meister, oder ist Ihnen etwas geschehen?'
Es klopfte. Der Major ließ eintreten. Wachtmeister Leuninger meldete stramm: '9. Batterie - 36 Mann Ausfall, überwiegend Tote.'
Der Major: 'He, Franz, laß Deine Männchenbauerei, wir sind unter uns!'
Jetzt wurde Leuninger auf mich aufmerksam. Der Major sah uns abwechselnd an, bot Leuninger einen etwas gebrechlichen Stuhl und wiederholte die soeben vernommene Meldung: '9. Batterie - 36 Mann verloren ... o weh!'. Automatisch erhoben wir uns von den Stühlen, und jeder hatte so seine Gedanken.“ [70]
Aus dem vorgesehenen Gespräch von Mann zu Mann war unter den gegebenen Umständen nichts geworden. Oder doch? Auf jeden Fall wurde es für Meister zunehmend klarer, daß der Abteilungskommandeur Major Riedel sowie der Wachtmeister Leuninger, die sich offenbar schon von früher her gut kannten, genau so dachten wie Meister selbst, daß auch sie den Krieg haßten und verabscheuten, daß auch sie Hitler und seine Hintermänner - wer das auch immer sei - verfluchten. Letzte Klarheit darüber gewann Meister einige Zeit später in dem nunmehr nachgeholten Vier-Augen-Gespräch.
Als Melder hatte Meister mehrfach täglich unmittelbaren dienstlichen Kontakt zu dem etwa fünfzig Jahre alten Major, einem Manne, der im Zivilleben Gymnasialdirektor war und der ebenfalls, genau wie Meister, kurz vor Ausbruch des Krieges als Reservist einberufen worden war.
Meister schreibt dazu:
„Von diesem Tage an grüßten wir uns, wenn niemand anderes in der Nähe war, nur noch per Handschlag. Er war mir zum Vater geworden, ich ihm zum Sohne.“ [70]
Später, nach einer Verwundung wurde Meister ins Lazarett Lublin eingeliefert und in Gips verpackt. Als ihm letzterer abgenommen worden war, erfuhr er zufällig, daß wenige Zimmer weiter auch Major Riedel liege - bettlägerig, allein in einem Vierbettzimmer.
Meister erhielt die Möglichkeit, seinen Abteilungskommandeur in dessen Zimmer zu besuchen. Dieser war sichtlich erfreut, seinen Lebensretter in seiner Nähe zu haben, und er sorgte dafür, daß Meister schon am nächsten Morgen mit in sein Zimmer verlegt wurde. Sicherlich keine alltägliche Geste: der hohe Offizier und sein Gefreiter in einem Krankenzimmer.
Es kam zu einem regen und aufschlußreichen Gedankenaustausch, bei dem sich beide Männer näherkamen: der akademisch gebildete Gymnasialdirektor und der einfache Zimmermann, aus dem vielleicht auch ein Gymnasialdirektor geworden wäre, wenn, ja wenn seine Eltern ihm eine höhere Bildung hätten angedeihen lassen können.
Diese beiden Männer mit den so unterschiedlichen Lebensläufen hatten, wie sich immer wieder zeigte, durchaus viele Gemeinsamkeiten. Immerhin war der Reserveoffizier Major Riedel, genau wie auch Karl Meister, entgegen seinem Willen in die Reservistenuniform gepreßt worden.
Karl Meister machte seinem Herzen Luft, indem er dem Major sagte: „Ich habe Hitler noch nie gesehen und wünsche dies auch künftig nicht, wenn ich nicht gerade einen geladenen Karabiner bei mir habe.“ [81]
Und er legte dem Major seine eigene, bescheidene Lebensphilosophie dar, in welcher er den Wert eines Menschen auf dessen Charakter und praktisches Handeln fixierte, nicht aber auf Herkunft, Besitztum und gesellschaftliche Stellung. Er gestand dem Major: „Hätte ich nicht schon von Anfang an gefühlt, daß Sie, Herr Major, einen edlen Charakter haben, dann hätte ich wahrscheinlich meine Seele nicht mit dem Blut der beiden Polen besudelt und hätte Sie Ihrem Schicksal überlassen.“ [81]
Gleiches machte er auch für den schwerverwundeten Unteroffizier Schade geltend, den er Tage nach dem Vorkommnis mit dem Major unter höchster Gefahr für sein eigenes Leben aus der Feuerzone geborgen hatte.
Als Meister aus dem Lazarett entlassen und zu einer Ersatzeinheit in Schweidnitz in Marsch gesetzt wurde, siegelte der Major ihm fest ins Gedächtnis: „Kamerad Meister, bleiben Sie der, der Sie waren und der Sie sind!
Der Weg, den Sie gehen, wird schwer sein, aber verlassen Sie niemals Ihr Ziel!“ [81]
Das war Trost und Anerkennung für Meisters wunde Seele, gab ihm Richtung und Kraft für sein künftiges Handeln.
Entsprechend dem vom Lazarett erstellten Befund galt Meister fortan als nicht mehr frontverwendungsfähig und sollte von der Ersatzeinheit in Schweidnitz ausgemustert werden, landete zunächst aber im Lazarett in Herrnprotsch. Weit ab von der Front, weitab vom Morden, möchte man glauben. Aber nein doch!
Auf seinem Zimmer lag ein schmächtiges Bürschchen, ein Kanonier oder Gefreiter, mit verbundenen Handgelenken. Im Gespräch mit diesem erfuhr Meister, daß der ziemlich zartbesaitete junge Mann, der so gar nicht in das von den Nazis propagierte Idealbild eines deutschen Jungen - „Hart wie Kruppstahl, zäh wie Riemenleder, flink wie Windhunde!“ - paßte, sich in einer höchst prekären Lage befand.
Er hatte gerade sein Examen als Bauingenieur bestanden, als er zum Barras einberufen wurde. In seiner Einheit ist er von seinem Unteroffizier, einem stupiden und rohen Schlägertyp, regelmäßig schikaniert und auch körperlich mißhandelt, unter anderem mehrfach mit dem Knie in den Bauch gestoßen worden. Das Leben wurde für ihn unerträglich, und er wußte keinen Ausweg. Auf der Toilette schnitt er sich mit einer Rasierklinge die Pulsadern auf, doch das wurde durch Zufall noch rechtzeitig entdeckt. Er konnte gerettet werden. Ein Fall für die Psychiatrie? Nein, ein Fall für das Militärgericht, das ihn schon einige Tage danach wegen Selbstverstümmelung und angeblicher Feigheit vor dem Feinde kompromißlos zum Tode verurteilte, zum Tode durch Erschießen. Und so dauerte es auch gar nicht lange, bis eines Tages ein Wachtmeister der Militärgendarmerie und drei Mann mit Stahlhelmen anrückten und den Unglücklichen in Handschellen zur Urteilsvollstreckung abholten. Seinen Suizidversuch haben sie ihm nicht gegönnt - Mord hatte Vorrang vor Selbstmord!
Es versteht sich, daß Meister durch das fast hautnahe Miterleben dieses unmenschlichen Geschehens in seiner inneren Opposition gegen die Nazis, gegen ihren menschenverachtenden, verbrecherischen Krieg nur noch bestärkt worden ist.

*
3. Intermezzo

Um Ostern 1940 wurde Meister schließlich ausgemustert, übernahm in Breslau eine Stelle als Hausmeister, war im wesentlichen mit leichten Arbeiten betraut, die seinem Gesundheitszustand zuträglich waren.
Wachtmeister Franz Leuninger - wir erinnern uns: der dritte Mann im Bunde gleichgesinnter Männer (Major, Gefreiter, Wachtmeister) -, der inzwischen auch ausgemustert worden war und der eine führende Position in der Bau- und Siedlungsgesellschaft bekleidete, hatte für seinen Kriegskameraden diese Stelle beschafft und führte ihn während des Einstellungsgesprächs auch in die neuen Aufgaben ein. K. Meister hatte nach längerer Zeit endlich wieder einmal das Gefühl, ein Mensch zu sein, endlich wieder nützliche Arbeit leisten zu dürfen.


*

4. Apokalypse

Aber diese Idylle, sofern man sie in ihrer Zeit und unter den damaligen allgemeinen Umständen überhaupt als solche bezeichnen kann, hielt nur knappe anderthalb Jahre an, dann erhielt Meister erneut Gestellungsbefehl. Daß er einmal als nicht mehr frontverwendungsfähig ausgemustert worden war, spielte ab sofort keine Rolle mehr. Der „Führer” brauchte Kanonenfutter.
Es folgten: Einsatz an der Ostfront, nun schon gegen die Sowjetunion. Wieder Verwundung, wieder Lazarettaufenthalt und anschließend Genesungsurlaub. Schließlich wurde er binnen weniger Tage zum Kommandoführer ausgebildet und als Leiter eines kleinen Außenlagers („Kommando“) mit zehn sowjetischen Kriegsgefangenen eingesetzt, das in einem Breslauer Vorort, in Birkenwerder, untergebracht war. Eines Tages wurde er zu seiner Stammeinheit gerufen, wegen seiner „Heldentaten“ im Polenfeldzug mit dem EK I ausgezeichnet und zum Unteroffizier befördert. [126]
Er selbst schreibt mit Bezug auf das EK I:
„Ich trug dieses Ding nur, wenn ich in irgendeiner Angelegenheit zur Kompagnie mußte. Ansonsten lag dieser Blutorden in der Tischschublade in der Wachstube auf der Kommandostelle. Mir graute davor! Später, als ich mit einem Kommando französischer Kriegsgefangener Breslau für immer verlassen mußte, ließ ich das Ding absichtlich dort im Schubkasten liegen.“ [127]
Getreu seiner allgemeinen Lebenshaltung betrachtete Meister die Gefangenen in erster Linie als Menschen, die irgendwann einmal, ohne persönliches Verschulden und gegen ihren Willen in diese Zwangslage geraten waren. Er fand viele Möglichkeiten und stellt diese in seiner autobiografischen Aufzeichnung auch ausführlich dar, den Gefangenen, die im übrigen in Produktionsbetrieben in der Nähe arbeiten mußten, das Leben zu erleichtern - auch wenn er sich dadurch den Unwillen einiger Firmeninhaber zuzog, die auf eine möglichst rigorose Ausbeutung der für sie ja fast kostenlosen Arbeitskraft der Kriegsgefangenen aus waren. [127ff.]
*
Die Zeit verging, die Front rückte näher, der Krieg kehrte mit immer größeren und schnelleren Schritten dorthin zurück, von wo er seinen Ausgang genommen hatte. Viele Menschen, vor allem Greise, Frauen, Kinder, verließen vor der heranrückenden Front ihre angestammte Heimat, begaben sich unter unsäglichen Strapazen - es war ja strenger Winter - zu Fuß oder per Pferdewagen in eine düstere, äußerst fragwürdige Zukunft.
Die Eisenbahn war ihrer Aufgabe längst nicht mehr gewachsen.
Auch die Kriegsgefangenen wurden in Richtung Westen verlegt. Doch lassen wir dazu wieder Karl Meister selbst zu Wort kommen:
„Am 25. Januar 1945 verließen wir dann auch mit allen Kriegsgefangenen - Franzosen, Belgier, Russen, Engländer - die Stadt Breslau und zogen kreuz und quer durch das halbe Deutschland. Früh um 8 Uhr standen alle Gefangenenkommandos, wie befohlen, vor Stoltes Tanzsälen, insgesamt etwa 5.000 Mann. Sie wurden in sogenannte „Marschsäulen“ eingeteilt. Den Oberbefehl über unsere Marschsäule hatte ein Hauptmann, welcher uns mit seinem Auto bis nach Bad Salzungen begleitete. Dies ist aber nicht etwa so zu verstehen, daß er sich ständig bei der Marschsäule aufhielt. Schließlich hatte er ja für die Verpflegung, für Übernachtung zu sorgen und mit den verschiedensten Dienststellen über die weitere Marschroute zu verhandeln.

Die eigentliche Leitung der Marschsäule hatte der Hauptmann einem Oberfeldwebel namens Klee übertragen, während er selbst mit einem Schreibstubenunteroffizier und mit einer - nicht seiner (!) - Frau mit dem Auto davonbrauste.
Klee erhielt täglich den Auftrag, mit der Marschsäule bis zu einem bestimmten Ort zu ziehen und dort weitere Befehle entgegenzunehmen. Dieser Oberfeldwebel war früher bei der SS und war so eine Art Spitzel. Außerdem war er nicht gerade intelligent. All dies führte dazu, daß ich den Kerl nicht ausstehen konnte. Er wurde mir täglich unsympathischer und verhaßter.
Ob für die flüchtenden Zivilpersonen oder für die Kriegsgefangenen, es war für alle katastrophal und grauenvoll.
Nachts sank die Quecksilbersäule bis weit unter minus 20 Grad. Schlimmer Hunger wurde zum ständigen Begleiter der Menschen, die nach fast 6 Jahren Krieg mit unzureichender Nahrungsversorgung ohnehin nichts zuzusetzen hatten. Bei den Kriegsgefangenen kam noch die mangelhafte Bekleidung hinzu, insbesondere weitgehend verschlissenes, ungeeignetes und reparaturbedürftiges Schuhwerk. Die englischen, französischen und belgischen Gefangenen waren zwar damit noch einigermaßen gut versorgt, aber die Russen besaßen teilweise nur klobige, selbst aus Holz geschnitzte „Elbkähne“, die keinesfalls für solche Wegstrecken geeignet waren, wie sie von den Menschen täglich bewältigt werden mußten.
An den ersten Tagen waren die Straßen noch weitgehend frei, aber bald gab es allerlei Hindernisse: zerbrochene Pferdewagen, die den Weg versperrten, bis zu zwei Metern hohe Schneeverwehungen, in denen die Fahrzeuge der flüchtenden Bevölkerung steckenblieben, Staus, Menschengedränge, verzweifelte Hilferufe, Panik, schreiende Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, froren und hungerten.
Allein schon auf der Strecke von Breslau bis Kostenblut zählte ich etwa 50 Leichen. Sie konnten wegen des Frostes nicht bestattet werden, wurden einfach unter den Straßenbäumen abgelegt. Es waren überwiegend Kinder und alte Menschen, die den strengen Frost und die Höllenstrapazen nicht überstanden. Vor Jauer hatte eine Frau, deren Mann erst kurze Zeit vorher an der Front gefallen war, auf dem Ackerwagen Drillinge entbunden. Sie und ihre drei Neugeborenen lagen kurze Zeit später erfroren ebenfalls unter den Straßenbäumen. Die nur wenige Jahre alten Geschwister der erfrorenen Drillinge, die die Frau nun als Vollwaisen zurückließ, schrien herzzerreißend um ihre Mutter. Was mag wohl in den nächsten Stunden, Tagen und Wochen auf sie zugekommen sein?
Auf der gleichen Strecke überholten wir einen Zug KZ-Häftlinge, es mögen etwa 150 Frauen gewesen sein. Sie trugen gestreifte Kutten, ihre Füße waren äußerst schlecht bekleidet, ihre Waden rot und blau, vom Frost aufgedunsen und geschwollen. Es waren meist Judenfrauen. Ihre Haare waren zerzaust, ihre Kleider schmutzig und zerrissen.
Ihre Bewacher waren SS-Leute. Bei günstiger Gelegenheit während des Überholens fragte ich diese leidgequälten Geschöpfe, wohin sie denn gebracht würden. Eine von ihnen antwortete mir in schon fast gleichgültigem Ton, daß sie nach Groß-Rosen zum Verbrennen gebracht würden. Eine mitleidige Dorfbewohnerin wollte den zweifellos bereits vom nahenden Tode Gezeichneten etwas Trinkwasser reichen, sie wurde von einem der SS-Bewacher angebrüllt und mit dem Karabiner bedroht.
Wir rasteten in einem sorbischen Dorf. In einem größeren Bauerngehöft brachten wir den größten Teil unserer Marschsäule unter. Die Franzosen und Engländer hatten noch einige wertvolle Gegenstände, wie Bekleidung und Schokolade, bei sich, die sie bei der Bevölkerung gegen Brot und andere Lebensmittel eintauschen konnten. Die Russen besaßen solche Wertobjekte nicht, sie litten also besonders stark unter Hunger.
Einer von ihnen hatte im Gehöft die Kartoffelkammer entdeckt und schlich sich hinein, um seinen Hunger mit rohen Kartoffeln zu stillen. Er mußte diesen versuchten Mundraub mit seinem Leben bezahlen. Ein bis noch vor kurzem UK-Gestellter („Unabkömmlicher“) war kurz vor Kriegsschluß noch Soldat geworden und wurde bei der Kriegsgefangenenbewachung eingesetzt. Er schoß den hungernden Russen auf dem Kartoffelhaufen nieder, schoß ihn nieder wie einen räudigen Hund - so, als hätte er durch seine UK-Stellung in der Vergangenheit so manches versäumt und müßte dies jetzt, kurz vor Kriegsschluß, noch schnellstens nachholen.
Als ich wegen des Knalls hinzugeeilt kam, hörte ich, wie der Bauer, der früher als ich eingetroffen war, zu dem Mörder sagte: 'Warum haben Sie das getan ?? Ich schenke Ihnen den ganzen Kartoffelhaufen, denn ich und meine Schweine fressen keine Kartoffeln, die mit Menschenblut besudelt sind !' [150-152]
Ich notierte mir den Namen des Mordschützen und schrieb eine Meldung an den Kompagniechef. Was daraus geworden ist, kann ich leider nicht sagen, denn ich konnte mich nicht weiter darum kümmern. Der Kerl gehörte ohnehin nicht zu meinem Haufen, und ich habe ihn vorher nicht gekannt und bin ihm auch später nicht mehr begegnet. [152]
In Hermannsdorf/Niederschles. war unsere Geduld schon mal zu Ende. Mein guter Kamerad, Unteroffizier Spehr und ich, also wir zwei Unteroffiziere, saßen bei einem kleinen Bauern und genossen unser Abendbrot, das man uns gut und reichlich serviert hatte. Bei uns saß auch ein einfacher Soldat, in welchem mein Freund einen guten Menschen erkannt haben wollte. Ein Wort zum anderen, und wir drei hätten zu einer verschworenen Gemeinschaft werden können. Doch ich konnte kein rechtes Vertrauen zu diesem Dritten finden, und ich stieß meinen Unteroffizierskameraden mehrfach mit dem Fuß unter dem Tisch an, wenn der zu frei und offen sprach. Wir redeten darüber, daß Oberfeldwebel Klee ein saugemeiner Kerl sei. Mein Unteroffizierskamerad dachte laut nach über die Möglichkeit des Meuterns.
Der Dritte tat so, als sei er Feuer und Flamme für diesen Plan, ja er sprach sogar selbst davon, daß als erstes Klee aus der Welt geschafft werden müsse. Doch dann sprang der Soldat wieder ab von dem Plan und sagte, das könne er nicht mitmachen, nein, nein, er habe noch niemals eine Leiche gesehen außer denen, die beim Treck am Straßenrand lagen, und da habe er nach der anderen Seite geschaut. Am nächsten Tage wurde ich zur Kompagnie gerufen und nach der Unterhaltung mit Unteroffizier Spehr gefragt. Ganz energisch leugnete ich, daß Spehr von so etwas gesprochen habe und verlangte Gegenüberstellung mit der Person, die so etwas erfunden hat. Spehr hatte auf mich gerechnet und sagte vorher bei einer gleichen Vernehmung dasselbe aus, bestätigte also meine Aussage. So ging die Sache ohne Folgen ab, und wir waren um eine wesentliche Erfahrung reicher. Übrigens war das bewußte Gespräch ja nur ein erster Gedankenaustausch, ein mehr oder weniger lautes Nachdenken, das schon im Keime scheiterte, weil unter drei Personen schon ein Verräter war. Außerdem war uns klar, daß es in der Wachmannschaft noch viele potentielle Verräter und überzeugte Nazis gab. Zu Ihnen zählte mit Sicherheit auch Stabsgefreiter Emmerich, der insbesondere die russischen Kriegsgefangenen mit Knüppeln und Bohnenstangen traktierte. Es hieß also, vorsichtig zu sein, denn die Nazi-Machthaber waren angesichts des nahenden totalen Unterganges besonders fanatisch und rigoros.“ [152/153]

Es war bei Bad Sulza, wo drei Franzosen von Meisters ehemaligem Breslauer Gefangenen-Kommando fußkrank ausfielen. Meister nahm sich ihrer an und blieb mit ihnen hinter der Marschsäule zurück. Er las auch noch zwei Russen auf, die, völlig erschöpft, auf einem Steinhaufen lagen und ihr Ende erwarteten. Sie erhielten Unterkunft und Verpflegung bei einer Lehrerfamilie, zu der sie vom Bürgermeister des Dorfes geschickt worden waren.
Zwei Tage später, am 28. Februar früh, trafen sie wieder auf die Marschsäule, die zwischenzeitlich auch einen Ruhetag eingelegt hatte.
Oberfeldwebel Klee überschüttete Meister mit einem Donnerwetter, doch Meister blieb ihm keine Antwort schuldig, glaubte er doch fest, daß es bereits „fünf Minuten vor zwölf“ ist. [153]
Karl Meister dazu: „Den Karabiner hatte ich dabei so griffbereit, daß ich mich nur durch große Beherrschung selbst daran hinderte, ihn auf den Oberfeldwebel zu richten. Und der hat dabei wohl auch gespürt, daß er mit mir in solchem Ton nicht lange umspringen kann. Jedenfalls zog der es vor, in den Wagen zu steigen und mir nicht länger ein Ziel zu bieten. Die Marschsäule setzte sich in Bewegung. Es ging in Richtung Weimar, an Weimar vorbei, auf die Autobahn. An der Auffahrt zur Autobahn befanden sich Wegweiser:
links nach Berlin, rechts nach Erfurt.
Klee hatte sein Fahrzeug schon etwas vor der Autobahnauffahrt verlassen und hatte sich an die Spitze der Marschsäule begeben. Niemand außer ihm wußte etwas über die geplante Marschrichtung. Er führte uns in Richtung Berlin, genauer gesagt: zunächst in Richtung Hermsdorfer Kreuz.
Als wir etwa eine Stunde in dieser Richtung marschiert waren, trafen wir auf Arbeiter, welche mit der Ausbesserung der Autobahn, die hier stark durch Bombeneinschläge gelitten hatte, beschäftigt waren. In diesem Augenblick befand ich mich ziemlich an der Spitze der Marschsäule und bekam mit, wie Klee die Arbeiter fragte, ob denn die Autobahn bis Erfurt so zugerichtet sei. Die Antwort war: 'Ihr kommt doch aus Richtung Erfurt, da müßt Ihr doch gesehen haben, wie es aussieht.' - 'Nein wir wollen doch nach Erfurt', - anwortete Klee.
'Du, Kumpel,' - sagte da der eine Arbeiter zum anderen - 'guck Dir doch den mal genauer an, ich glaube, der hat den Sonnenstich und will mit dem Haufen über Berlin nach Erfurt ziehen!' Und zu Klee gewandt, fügte er noch hinzu: 'Na, weißte, du Saukopf, ich glaube, es ist wohl das beste, wenn wir dich gleich in dem Trichter hier mit zuschippen ... ' [156]
Ich grinste innerlich vor Freude darüber, daß ihn ein Zivilist in unserer Gegenwart so gedemütigt hatte, hätte im nächsten Augenblick aber auch vor Wut über diesen Vollidioten von Klee platzen können. Doch ich schwieg, denn es war noch nicht die Zeit, mit ihm abzurechnen.

Statt nun die Marschsäule einfach „Kehrt“ machen zu lassen, ließ er die Spitze „Links schwenkt, marsch“ machen, und alle mußten erst noch bis zu der Stelle vorrücken, wo wir standen. Klee glaubte wohl, er befände sich auf dem Kasernenhof und vollführe Exerzierübungen mit Rekruten. Doch dann ging es ja wirklich in Richtung Erfurt.
Nun gelangten wir wieder an die Autobahnauffahrt Weimar. Es war schönes Wetter, klare Luft. Aber dies hatte auch seine Nachteile: die Marschsäule konnte von den alliierten Flugzeugen leicht gesehen werden. Vorläufig gewahrten wir aber nur einige Kondensstreifen in größerer Entfernung. In völlig ungedecktem Gelände ließ Klee die Marschsäule halten. Ruhepause. Wer noch etwas Eßbares bei sich hatte - und das waren freilich die wenigsten - , nahm es zu sich. An das in letzter Zeit schon fast allgegenwärtige Geräusch von Flugzeugmotoren hatten wir uns ja bereits gewöhnt. Unsere Marschsäule hatte sich auseinandergezogen, und kleine Gruppen von fünf bis zehn Mann fanden sich zusammen.
Mancher der Kriegsgefangenen untersuchte seine Schuhe und die wundgelaufenen Füße oder beschäftigte sich mit irgendetwas anderem. Bald vernahmen wir wieder Flugzeuggeräusche. Klee sah durchs Fernglas und sagte dann, daß es sich um ein deutsches Flugzeug handele. Das Flugzeug machte nun ein paar Schleifen, verringerte dann die Flughöhe und nahm Kurs direkt auf Weimar. Da die Autobahn bei Weimar ziemlich hoch gelegen ist, konnten wir von hier aus alles genau beobachten. Wir sahen, wie das Flugzeug eine Bombe auslöste und sofort wieder steil nach oben strebte.
'He, Klee! Werfen deutsche Flugzeuge Bomben auf deutsche Städte?!' - so brüllte ich den Oberfeldwebel an. Doch was er sich in seinen Bart brummte, konnte ich nicht verstehen. Meine Aufmerksamkeit galt auch viel zu sehr dem Flugzeug und der Stadt Weimar, wo jetzt eine große gelb-graue Wolke aufstieg, die mehrere schwarze Rauchfahnen nach sich zog. Erst jetzt ertönten in Weimar die Luftschutzsirenen. Nunmehr bog das Flugzeug, das uns offensichtlich schon längst wahrgenommen hatte, in unsere Richtung ab. Der Pilot hatte uns als neues Ziel ausgemacht. Die Maschine kam im Tiefflug näher, ihre rote Kanzel war für uns klar erkennbar. Da knallte es plötzlich aus seinen MGs. Die Kugeln pfiffen an mir vorbei, einige der Gefangenen waren bereits getroffen worden. Panikartig verließ ich den Queckenhaufen, auf dem ich mich niedergelassen hatte, und rannte in die Kiefernschonung 3), die am nördlichen Rande des Ackerstückes lag.

Keine wirksame Deckung zwar gegen das MG-Feuer. Aber doch ein gewisser Sichtschutz - genau genommen: nur eine naive Hoffnung, ein Griff nach dem rettenden Strohhalm. Auch die Kriegsgefangenen und das Wachpersonal flüchteten in besagte Schonung. Das Flugzeug sauste über uns hinweg, wendete und schoß, was nur aus den Läufen herausging.
In der allgemeinen Panik, wo jeder nur darauf bedacht war, sich über den grobschollig gepflügten Acker in die Kiefernschonung zu retten, merkte ich erst ziemlich spät, daß wir inzwischen von einem ganzen Schwarm solcher Flugzeuge 4) beharkt wurden. Schon war eine beträchtliche Zahl von Kriegsgefangenen getroffen worden und blieb tot oder schwerverwundet auf dem Acker liegen. Die anderen liefen buchstäblich um ihr Leben, es war ein Fallen und ein Aufspringen, ein Jagen und Flüchten. Endlich erreichte ich das Wäldchen, warf mich unter ein Bäumchen. Aber auch hier war die Luft genauso eisenhaltig wie über der freien Ackerfläche. Und schon bald war ich mit einer Menge von Zweigen bedeckt, welche von den Bäumchen abgeschossen waren und auf meinen Körper fielen. In meiner Todesnot hatte ich nur den einen Wunsch: Sollte mich eine Kugel treffen, mein Gott, dann bitte so, daß ich auf der Stelle tot bin. Die Flugzeuge brausten über das kleine Wäldchen, bestrichen dieses mit ihren MG-Garben, wendeten, flogen über das Ackerland, machten Jagd auf den einzelnen Mann, der sich da noch regte, wendeten wieder und bestrichen erneut unseren Fluchtort. Als der Angriff zu Ende war, hatten die Mordvögel eine reiche Ernte gehalten. Nun wandten sie sich einem neuen Ziele zu, dem Luftwaffenstützpunkt in Nohra, nur wenige Kilometer vom eben verlassenen Schlachtfeld entfernt.
Das Wäldchen , in dem wir Schutz gesucht hatten, mag etwa drei bis fünf Hektar groß gewesen sein. In manchen Gegenden Deutschlands würde man es noch nicht einmal als Wald, sondern nur als 'etwas größeren Busch' bezeichnet haben. Wir waren etwa 130 Mann, größtenteils Kriegsgefangene, die hier Schutz gesucht hatten, vielen von ihnen hat es nichts genutzt. Nun lagen hier und auf dem angrenzenden Ackerstück 87 Tote und 14 Schwer- oder Leichtverletzte, also 101 Opfer des beschriebenen Angriffs.“ [158] (Auf diese Zahlen müssen wir später noch einmal zurückkommen - der Essayist)
(...)„Nur mit etwa 30 Mann, also knapp einem Viertel, kamen wir körperlich unversehrt aus diesem Höllenspektakel heraus. Die Autobahn, ihre Böschung, der Acker, das Wäldchen - überall Leichen verschiedener Nationalitäten. Viele von ihnen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Offensichtlich waren bei dem Beschuß Explosivgeschosse zum Einsatz gekommen.“ [158]
Diese Massenhinrichtung - man kann das Geschehene wohl kaum anders bezeichnen - läßt freilich eine Reihe von Fragen aufkommen: Hätte ein solcher Marschhaufen nicht mit deutlich sichtbaren weißen oder Rotkreuz-Fahnen ausgestattet sein müssen? Hätten die Piloten bei ihrem Tiefangriff bei sonnenklarem Wetter nicht sofort erkennen müssen, daß es sich bei den Menschen da unten nicht um faschistische Soldaten handeln konnte, da sie ja ganz offensichtlich unbewaffnet waren, keinerlei Abwehrreaktionen zeigten? So aber haben alliierte Piloten ihre eigenen Kampfgefährten getötet - wahrlich eine makabre Aktion von Blutrausch! Beginn der Apokalypse!
„Oberfeldwebel Klee war unverletzt geblieben, denn er konnte noch schnell die Autobahnbrücke erreichen, die ihm ausreichenden Schutz bot. Durch seine unbeschreibliche Dummheit trug er einen Großteil Schuld an diesem Massaker.
Hätte er uns ein paar Stunden vorher, als wir die Autobahn erreicht hatten, nicht in die falsche Richtung geführt, hätten wir uns zu der Zeit, als die Flugzeuge kamen, längst in den Wäldern südlich von Erfurt befunden und hätten ungleich bessere Deckung gehabt. Klee hatte durch seine Dummheit kurz vor dem absehbaren Kriegsende noch den Tod von hundert Menschen mitverschuldet. Aber wahrscheinlich hat er sich darüber nie Gedanken gemacht. Ich hatte ihm unwiderruflich Rache geschworen.
Ich war in diesem Kriege zum Mörder geworden. Dies belastete mein Gewissen. Aber in solcher Lage sollte es mir nicht darauf ankommen, noch ein Opfer mehr auf mein Gewissen zu laden. Ja, ich empfände es als großes Unrecht, wenn Leute wie Klee lebend und womöglich auch noch unversehrt aus dem Kriege heimkehrten.
Verbissen suchte ich nach einer Gelegenheit, bei welcher ich mich nicht gescheut hätte, ihn ins Jenseits zu befördern. Aber er mußte wohl Lunte gerochen haben, er ging mir fortan aus dem Wege.
Wir ließen am Ort des Massakers ein Beerdigungskommando zurück, und unsere stark zusammengeschrumpfte Marschsäule setzte ihren Marsch ins Ungewisse fort.“ [156-159]
Auch die Odyssee von Karl Meister fand ihre Fortsetzung und erreichte noch einige Höhepunkte bei der Gefangennahme und schließlich in amerikanischer Gefangenschaft in Frankreich. Wir aber legen sein vergilbtes Manuskript zur Seite und begeben uns auf die Suche:

*

Das Land Thüringen, wo sich nahe bei Weimar auf dem Ettersberg das KZ Buchenwald befand, ist reich an Gedenkstätten, die Zeugnis ablegen von den Verbrechen der Naziherrschaft und von den unsäglichen Leiden ihrer Opfer, die noch wenige Wochen vor Kriegsende auf Todesmärsche geschickt wurden.
Wir wollten wissen, ob dem Massaker an der Weimarer Autobahnbrücke auch eine Gedenkstätte gewidmet ist. Und wir wurden fündig, aber wir mußten Jahrzehnte nach dem Vorfall auch eine traurige Überraschung erleben. Doch zunächst das, was wir von einigen älteren Einwohnern aus dem unweit der Autobahn gelegenen Ort Obergrunstedt erfuhren, die Augenzeugen (zumindest der dem Massaker folgenden Vorgänge)waren.
Demnach ist nach dem Einmarsch der Amerikaner das Massengrab geöffnet worden, die Opfer französischer und belgischer Nationalität wurden exhumiert und in ihre Heimat überführt.
Man verwies uns auf den örtlichen Friedhof, wo wir nach einigem Suchen im hintersten Winkel, schon außerhalb des eigentlichen Friedhofsterrains, eine wenig auffällige und kaum gepflegte Gedenkstätte, die zum Massengrab gehört, vorfanden. Ein wenige Quadratmeter umfassender Platz, der um fünfzehn Treppenstufen tiefer liegt als das eigentliche Friedhofsgelände, eine etwas abschüssige Stelle, die - nach Auskunft einer 79jährigen Einwohnerin des Dörfchens - früher einmal von den Kindern zum Rodeln genutzt worden ist. Diese Frau hat übrigens im Jahre 1945 auch die Leichentransporte vom „Schlachtfeld“ zum Massengrab beim Friedhof per Ackerwagen mit Pferdegespann aus nächster Nähe beobachtet.
Die eigentliche Überraschung stellte sich beim Lesen der Inschrift ein:

HIER RUHEN
67 SOWJETISCHE SOLDATEN
32 FRANZÖSISCHE SOLDATEN
2 BELGISCHE SOLDATEN
SIE GABEN IHR LEBEN IM KAMPF
FÜR DIE BEFREIUNG VOM FASCHISMUS
DEN TOTEN ZUR EHRE DEN LE
BENDEN ZUR MAHNUNG


Wir glaubten zunächst, an der falschen Gedenkstätte zu stehen, die nichts mit dem von K. Meister geschilderten Massaker an den Kriegsgefangenen zu tun hat. Doch dann gab es keinen Zweifel, spricht doch auch Meister von sowjetischen bzw. russischen, französischen und belgischen Gefangenen, die zur Marschsäule gehörten.
Und dann fiel es uns wie Schuppen von den Augen:
67 + 32 + 2 ergibt als Summe 101 Opfer.
Ja, und die von Karl Meister angeführte Rechnung (87 Tote + 14 Schwer- u. Leichtverletzte) ergibt ebenfalls die Summe von 101 Opfern.
Wir befanden uns also zweifellos an der richtigen Gedenkstätte, denn sowohl die Gesamtzahl der Opfer als auch die Angaben zu ihrer Nationalität können keine Zufälligkeit sein.
Und doch: K. Meister berichtet ja nicht von 101 Toten, sondern er erwähnt 14 Schwer- und Leicht-Verwundete . Wie diese zu Toten wurden, wird sicherlich nie mehr aufgeklärt werden können. Daß Schwerverwundete noch an Ort und Stelle verstorben sind, kann natürlich nicht abgestritten werden, daß Leichtverwundete aber den Platz des Grauens nicht mehr lebend verlassen konnten, muß tiefere Ursachen haben. Der für diesen Fall mit hoher Wahrscheinlichkeit zutreffende Begriff heißt: Mord. Kaltblütiger Mord!
Wie immer man den Verdacht auch formulieren mag, er richtet sich gegen Deutsche, gleichgültig, ob in Uniform oder in Zivil.
Die in Stein gemeißelte Inschrift der Gedenkstätte ist leider sehr allgemein gehalten und geht nicht darauf ein, wie es zum Tode der 101 Personen gekommen ist. Die pauschal heroisierende Formulierung „... gaben ihr Leben im Kampf für die Befreiung vom Faschismus“ gilt nur in ihrem allgemeinsten Grundbezug, sie wird dem damals konkret Vorgefallenen aber in keiner Weise gerecht.
Auch die Inschriftaussage, daß bei der Gedenkstätte insgesamt 101 Opfer ruhen, erscheint fragwürdig, falls die Aussagen von Zeitzeugen zutreffend sind, wonach die Opfer französischer und belgischer Nationalität durch die Alliierten exhumiert und in ihre Heimat überführt worden seien.
Doch wird man wohl in Rechnung stellen müssen, daß bei dem allgemeinen Chaos, das in den letzten Wochen und Monaten vor der totalen Kapitulation des „Tausendjährigen Reiches“ und in den ersten Wochen danach gerade im Thüringer Raum geherrscht hat, auch kaum noch annähernd vollständig und exakt nachvollzogen werden konnte, was da im einzelnen vonstatten gegangen ist und welche Menschen davon betroffen waren. 5) Auch ist ja die Marschsäule aus Breslau mit den Kriegsgefangenen Russen, Franzosen, Belgiern und Engländern nur eine von vielen gewesen, die damals durch Thüringen gezogen sind und die nicht nur in zeitliche und räumliche Nähe zu den berüchtigten Todesmärschen mit KZ-Häftlingen gerieten, sondern dann auch auf die zurückflutenden und in Auflösung begriffenen deutschen Streitkräfte und die ihnen auf den Fersen folgenden alliierten Truppen stießen.
*

5. Verurteilung / Freispruch

Karl Meister, mein leiblicher Vater, wir schreiben jetzt das Jahr 1998. Du liegst nun schon 33 Jahre in Gottes Erde. Ich bin heute fast doppelt so alt wie Du damals warst, als Du gleich zu Beginn des 2. Weltkrieges Deine ersten traumatischen, Dich bis an Dein Lebensende psychisch belastenden Erlebnisse hattest. Den mit Deinem Herzblut geschriebenen Lebensbericht haben wir - meine Schwester und ich und unsere Nachkommen - mit innerer Ergriffenheit zur Kenntnis genommen. Deine Enkel und Urenkel, die die deutsche Sütterlinschrift ja nicht lesen können, haben die wesentlichen Inhalte durch uns erfahren.
Wir haben Deine Ausführungen, insbesondere auch die, wo Du eine erste philosophische Aufarbeitung versucht hast, aufmerksam gelesen und haben die Botschaft, die Du uns vermitteln wolltest, verstanden. Jedenfalls glauben wir dies.
Über ein halbes Jahrhundert ist ins Land gegangen, und noch immer sind die Folgen des Krieges für uns alle schmerzhaft.
In den letzten Jahren sind sich deutsche Politiker wiederholt in die Haare gefahren, weil Oppositionelle, einem Wort von Tucholsky folgend, gesagt haben: Soldaten sind Mörder (oder doch wenigstens potentielle Mörder)!
Als die Gemüter sich etwas beruhigt hatten, lenkte man ein und formulierte, daß sie zwar nicht pauschal Mörder seien, wohl aber Mordwerkzeuge. Dem muß man sicher zustimmen. Ja, die eigentlichen Mörder sind vom Ort des Blutvergießens meist weit entfernt.
Sie sind dort zu finden, wo Rüstungsaufträge erteilt werden, wo man durch Konstruktion und Produktion von Kriegswaffen und -material aller Art Profit macht, wo die Anweisungen und Befehle erteilt werden, Menschen gegen ihren Willen in Soldatenuniformen zu stecken und sie auf andere Menschen, andere Völker zu hetzen.
Sie sind bzw. waren zu finden in den Kreisen mit den protzigen Funktionärsuniformen der obersten Nazi-Elite, aber auch unter den Herrschaften mit den maßgeschneiderten Nadelstreifenanzügen, die, hinter Regierungsschreibtischen sitzend, - den militärischen Angriff auf andere Länder und Staaten befehlen und die damit das Töten von Menschen zur ersten und ständigen Tagesaufgabe erklären. Aber sie finden sich auch auf der mittleren Führungsebene, dort wo Fanatiker des Nationalsozialismus in ihrer Herrenmenschenideologie und in ihrem Rassenwahn mit beispielloser Skrupellosigkeit und Brutalität schwere und schwerste Verbrechen an der Zivilbevölkerung und an Kriegsgefangenen zu verantworten haben.

Und es sind die Kräfte, die Wehrdienstverweigerer mit der Todesstrafe belegten oder sie in Strafbataillone schickten, was im Resultat auf das Gleiche hinauslief, die eigene Soldaten standrechtlich erschießen ließen, weil die sich in ihrer seelischen Not die Pulsadern durchtrennt hatten.
Die eigentlichen Mörder sind diejenigen, die auf Grund ihrer verbrecherischen Politik eine strategische Situation zu verantworten haben, in der Hunderttausende von Menschen, vor allem Greise, Frauen und Kinder in der ungünstigsten Jahreszeit des strengen Winters gezwungen wurden, auf die todbringende Flucht vor der herannahenden Front zu gehen. Es sind die gleichen Kreise, die Tausende von Kriegsgefangenen und von KZ-Häftlingen auf endlos lange Todesmärsche durchs deutsche Land geschickt haben, die dafür verantwortlich sind, daß wehrlose Gefangenenkolonnen ohne Rot-Kreuz-Fahnen durch Gegenden getrieben wurden, wo die alliierten Streitkräfte längst die Lufthoheit hatten und wo folglich auch solche Massaker wie das an der Autobahnauffahrt Weimar prinzipiell voraussehbar waren.
Aber auch unter den einfachen Soldaten gab es nicht wenige regelrechte Mörder. Doch auch sie waren zum großen Teil selbst Opfer der Entmenschlichung und der totalen geistigen Manipulation in jener Zeit.
Du, Karl Meister, gehörtest keinesfalls zu diesen, wohl aber der Gefangenenbewacher, der den bereits halbverhungerten, wehrlosen russischen Kriegsgefangenen auf dem Kartoffelhaufen kaltblütig niederschoß.
Trotz der schriftlichen Meldung, die Du darüber an Deine Vorgesetzten abgegeben hast, wird ihn aber wohl kaum die gerechte Strafe ereilt haben, denn das ganze faschistische System war zutiefst verbrecherisch, und das verbrecherische Handeln des Einzelnen paßte genau in die allgemeine Mordstrategie der Hauptverantwortlichen.
Kriegstote sind keine Unfallopfer, sondern Mordopfer! Es kommt darauf an, die wirklichen Mörder zu benennen und sie der verdienten Strafe zuzuführen. Menschenopfer auf seiten des Aggressors sind dessen Mordkonto zuzurechnen, so wie dieser auch für alle direkten und indirekten Folgelasten verantwortlich ist, die nunmehr auch das eigene Land, das eigene Volk treffen: Reparationslasten, Gebietsverluste, jahrzehntelange Fremdbesatzung, Volksvertreibung, Not und Elend - um nur einiges aus der langen Schuldliste zu benennen.

Karl Meister, Vater, Deine Gewissensbisse, Dein Bekenntnis, Du fühltest Dich als Mörder, gereichen Dir zu Ehre. Doch die Skrupel, die Dich bis an Dein Lebensende verfolgt, ja, die Dein Siechtum und Deinen frühen Tod befördert haben, sind zu kurz gegriffen, weil sie bei Deiner Person beginnen und bei Deiner Person aufhören.
Nein, Du bist kein Mörder. Die beiden polnischen Partisanen mußten zwar ihr Leben lassen, weil Du die tödlichen Schüsse auf sie abgegeben hast. Aber Du hast sie nicht aus egoistischen Motiven getötet. Du kanntest sie ja gar nicht, hast vorher nie etwas mit ihnen zu tun gehabt, hast sie vorher nie gesehen. Und hättest Du sie persönlich gekannt und wärest Du mit ihnen in einen argen Streit verwickelt gewesen, so wäre es Dir nie auch nur im Traume eingefallen, eine tödliche Waffe auf sie zu richten. Gleiches gilt ganz bestimmt auch für die beiden Partisanen hinsichtlich ihres Verhältnisses zum Major.
Du befandest Dich in einer Zwangslage, ähnlich der im Zivilrecht verankerten Notwehrsituation, in der Dir keine andere Wahl blieb. Du hattest diese Situation nicht herbeigewünscht oder absichtlich gesucht. Und Du wärest hinsichtlich Deiner Gewissensqualen keinen Deut besser dran, hättest Du die Partisanen ihr Vorhaben vollenden lassen.
Oder hättest Du in der Folgezeit etwa besser mit dem Vorwurf leben können, maßgeblich mitschuldig zu sein am Tode des von Dir wegen seiner humanistischen Grundhaltung geachteten und geschätzten Abteilungskommandeurs? Mit Sicherheit nicht. Wir haben bei dieser Frage stillschweigend vorausgesetzt, Du wärest nicht wenige Augenblicke später ohnehin von den Partisanen entdeckt und mit dem gleichen Schicksal bedacht worden, das sie dem Major zugedacht hatten.
Durch Deine unfreiwillige Zugehörigkeit zur Naziwehrmacht warst Du in eine ausweglose Zwangslage geraten, Du warst total manipuliert, hattest keine Wahl, mußtest die Dir aufgezwungene Rolle als Vollstrecker von im Prinzip längst gefällten Todesurteilen auch gegen inneres Sträuben annehmen und hattest dabei keine Sekunde Zeit, über Recht oder Unrecht zu befinden und über Menschenrecht und Moral nachzudenken.
In dieser Situation tatest Du automatisch genau das, was man Dir schon in der Rekrutenzeit im Jahre 1918 eingedrillt und wozu man Dich in den Krieg geschickt hatte. Übrigens muß man es den beiden Partisanen noch hoch anrechnen, daß sie für den Major - einmal abgesehen von der Mißhandlung mit dem Strick - noch eine ehrenvolle Exekution in Form einer formellen standrechtlichen Erschießung vorgesehen hatten und ihn nicht einfach wie einen räudigen Hund abgeknallt haben. Aber eben dieses letzte kleine Fünkchen soldatischer Ritterlichkeit gegenüber dem Feinde hat zusätzliche Zeit in Anspruch genommen, die den beiden in der gegebenen Situation objektiv nicht zur Verfügung stand, und war deshalb für sie zum Verhängnis geworden.
Aus der gerechten Sicht ihrer Nation hätten die beiden für ihren persönlichen Einsatz zur Verteidigung des Vaterlandes posthum eine hohe Ehrung verdient, wie viele andere ihrer Landsleute auch.
Du warst in diesem verbrecherischen und verfluchten Krieg ein Mordwerkzeug, weil Du - so wie auch ich, Dein Sohn - Soldat warst. Wir einfachen Menschen und mit uns beiden auch Millionen anderer hatten in diesem zutiefst unmenschlichen System keine andere Wahl, wenn wir nicht das Wertvollste, was wir als Menschen besitzen: unser eigenes Leben, von vornherein wegwerfen wollten.


*

6. Gegenwart (!) ... Zukunft (?)

Ja, mehr als ein halbes Jahrhundert ist seit den Geschehnissen, über die K. Meister berichtet, vergangen. In dieser Zeit ist vielen Deutschen, vielleicht aber auch Angehörigen anderer Nationen, die Sensibilität für die Wahrheiten der Vergangenheit langsam abhanden gekommen. Für Menschen, die während des Krieges oder später geboren wurden, ist der 2. Weltkrieg schon finsterste Vergangenheit, vergleichbar dem 30jährigen Krieg. All das liegt für sie eine Ewigkeit zurück, betrifft scheinbar nicht ihr eigenes Leben, nicht die Welt von heute. Dieses Verblassen der Vergangenheit im individuellen wie auch im gesellschaftlichen Bewußtsein ist ein ganz natürlicher Vorgang, mit dem man sich abfinden muß, gleichgültig ob einem dies nun gefällt oder nicht.
Aber noch etwas anderes sollte uns sehr nachdenklich stimmen: Gewaltanwendung gegen Menschen und Sachen und ihre spektakuläre Darstellung und Verbreitung durch die Medien ist heute in aller Welt, auch in Deutschland zur Alltäglichkeit geworden. Für Kinder und Jugendliche ist es schon fast kein Unterschied mehr, ob ihnen dies in Form eines Märchenfilmes, in Form eines Western mit schießwütigen Cowboys und Selbstjustiz übenden Typen aller Art begegnet, ob sie einen Dokumentarbericht von echtem Mordgeschehen bei kriegerischen Auseinandersetzungen oder aus dem Bereich der tagtäglichen aktuellen Kriminalität sehen, oder aber ob sie sich bei einem Computerspiel aktiv in der „Vernichtung“ eines - hier, Gott sei Dank, nur virtuellen - „Gegners“ üben.
Wen wundert es da noch, daß sich auch in der zivilen Sphäre eine allgemeine Brutalität breitmacht, die mit der zweckwidrigen Anwendung von Baseballschlägern als Schlagwaffen beginnt und die beim illegalen Besitz und dem bedenkenlosen Gebrauch von Schußwaffen aller Art und Sprengsätzen noch lange nicht ihre Grenzen erreicht hat. Ein Menschenleben hat im Bewußtsein einer steigenden Anzahl, gerade auch jüngerer Leute schon längst keinen Wert mehr. Zweifellos eine Voraussetzung und Bedingung dafür, daß sich auch heute noch an einem beliebigen Punkt der Erde ähnliches und unter Umständen noch schlimmeres abspielen kann als das, was in der Vergangenheit die Menschheit schon einmal an den Rand des Abgrunds gebracht hat.
Hinzu kommt eine weitgehend janusköpfige Moral in wohl allen Kulturkreisen, wenn es um die Frage der Vernichtung menschlichen Lebens geht. Man denke nur an die konservativen Kräfte in vielen Staaten, die zum Beispiel einerseits vehement gegen eine Geburtenregelung durch Abtreibung eintreten mit dem Vorwand, das ungeborene Leben schützen zu wollen, die aber andererseits alles in ihrer Macht Stehende tun für immer mehr und wirkungsvollere Vernichtungswaffen, für wachsende militärische Stärke und Überlegenheit und für eine bewaffnete Präsenz eigener Streitkräfte außerhalb ihres eigenen Hoheitsgebietes, wobei sie jederzeit bereit sind, die Vernichtung von Menschenleben billigend in Kauf zu nehmen.
Zu dieser janusköpfigen Moral gehört auch, daß einerseits zwar schon den Kindern eine wesentliche Grundposition der christlichen Ethik - „Du sollst nicht töten!“ - beigebracht wird, daß aber andererseits die Heranwachsenden (zumindest die männlichen), kaum daß sie der Schule entwachsen sind, zum militärischen Dienst gezwungen und dort mit aller Nachhaltigkeit und Perfektion körperlich, technisch-ausrüstungsmäßig und ideologisch zum Töten anderer Menschen gedrillt und erzogen werden. Was für die jungen Menschen heute im Zivilleben noch ein eklatanter Straftatbestand ist, kann schon morgen - im Kriegsfalle - als eine ständige Handlungsaufforderung, als ein Dauerauftrag an sie herangetragen werden. Und sie werden dann mit umso höheren militärischen Auszeichnungen geehrt, je mehr und initiativreicher sie von diesem Dauerauftrag Gebrauch machen. Insgesamt aber werden sie dann in eine Situation getrieben, in der sie, bei Gefahr für ihre eigene Weiterexistenz, meist auch gar nicht anders können, als den für sie nunmehr straffrei gewordenen Mordauftrag bedenkenlos zu erfüllen. Sie sind, ehe sie sich's versehen, nunmehr in einer Person nicht nur Mordwerkzeug (was aufgrund der genossenen psychischen Manipulation größtenteils aus ihrem Bewußtsein verdrängt wird), sondern gleichzeitig auch Richter und Scharfrichter.
Richter freilich, die an kein bürgerliches Gesetzbuch, an kein 5. Gebot, an kein formal-juristisches Verfahren gebunden sind, die Schuld oder Unschuld nicht zu prüfen brauchen, die keinen Gerichtsbericht und kein Gerichtsprotokoll auszufertigen brauchen, für die es genügt, zu wissen oder wenigstens anzunehmen, daß der Andere ihr persönlicher Feind oder doch der Feind ihrer Nation sei. Richter auch, die das ohne jede Bedenkzeit gefällte Todesurteil unverzüglich selbst vollstrecken - ohne jede juristische Qualifikation, und ohne Angst haben zu müssen vor einem späteren Justizskandal oder vor einer Amtsenthebung und vor Berufsverbot.
Wahrlich: eine „komfortable“ Situation, in der sie sich befinden!
Dies alles wird ergänzt durch eine weitestgehende Eliminierung des Begriffes Mord aus der regierungsamtlichen wie aus der militärischen Fachsprache. Der Terminus Mord wird vermieden, also findet Mord auch nicht statt - fürwahr eine famose Logik, auf die der naive Durchschnittsbürger auch tatsächlich noch hereinfällt!
Mord, den die eigenen militärischen Kräfte am „Feinde“ auftragsgemäß ausführen, ist auf einmal kein Mord mehr. Er wird zu einer Art rechtsstaatlicher Vollstreckung hochstilisiert, zur gerechten Strafe für angeblich Schuldige oder gar „lebensunwerte“ Wesen, die angeblich die Bezeichnung homo sapiens nicht verdienten. Die Tötung von Menschen wird zu einer selbstverständlichen Pflicht, zu einer Sache des Ruhmes und der Ehre, des Heldentums hochgepriesen.
Die Perfektion einer hochentwickelten Waffentechnik tut ein übriges, um das Morden zu erleichtern. Wäre man als Soldat wie in längst vergangenen Zeiten gezwungen, den „Feind“ mit dem Schwert oder der Lanze zu bekämpfen, müßte man dazu seine eigene Muskelkraft einsetzen beim Durchbohren oder Enthaupten des Gegners, ihm dabei ins schmerzverzerrte Gesicht sehen, ja, müßte man im gleichen Augenblick befürchten, im mit letzter Kraftanstrengung geführten Kampf um Leben und Tod den kürzeren zu ziehen und selbst zum Opfer der Auseinandersetzung zu werden, ginge einem das Mordspektakel wohl wesentlich stärker ans Nervenkostüm. So aber setzt man sich ja mit weißen Handschuhen, frisch rasiert und mit dem besten Gesichtswasser gepflegt, in die Kanzel des gut bewaffneten und kaum ernsthaft angreifbaren Großbombers, ohne die Ladung, die das Bodenpersonal vorher in die Bombenschächte eingehängt hat, persönlich zu Gesicht bekommen zu haben. Man startet die Maschine, fliegt los - alles Routine - und drückt, wenn die Maschine die Zielkoordinaten erreicht hat, kurz auf das „rote Knöpfchen“, falls nicht auch noch dieser Handgriff automatisch vom Bordcomputer erledigt wird. Und das wär's dann ja auch schon! Wen interessiert es da noch, daß wenige Sekunden später Dutzende, Hunderte, ja Tausende von Menschenleben ausgelöscht und ebensoviele Menschen für den Rest ihres Lebens zu Krüppeln gemacht werden??
Die Faszination der einige tausend Meter tiefer erfolgenden Explosionen suggeriert doch nur ein festliches Feuerwerk - und zurück geht's, auf den heimatlichen Militärflugplatz, wo einen, wenn der Abend noch nicht allzuweit fortgeschritten ist, im Kasino noch allerlei Kurzweil erwartet, die dafür sorgt, daß man nicht etwa ins Grübeln verfällt.
Soldaten, Zivilisten, Greise, Frauen, Kinder - alles Tote und Schwerverwundete - , doch: „das ist ja schon Stunden her!“ und: „Wo war das noch gleich?“ - „Also, Kameraden, Hoch die Tassen! Laßt die Gläser klingen!“
Ja, und wo sind hier die Mörder? Werden diese irgendwann einmal zur Verantwortung gezogen? Welche Strafe wird sie erwarten? Wie werden sie sich vor einem möglichen Gericht herausreden? An dem konkreten Mordgeschehen waren sie ja nicht unmittelbar beteiligt!!!
Sehr bedenklich muß es einen stimmen, wenn in letzter Zeit auch aus dem Bereich Bundeswehr immer wieder nationalistische, rassistische, militaristische und gewaltverherrlichende Vorkommnisse sowie eine falsch verstandene militärische Traditionspflege bekannt werden und dies obendrein noch von verschiedenen Politikern kleingeredet und beschönigt wird.
Haben wir es hier nicht vielleicht mit einigen der Brutstätten für die Reproduktion und für die geschichtliche Kontinuität des Bösen zu tun?
Erfreulich und ermutigend dagegen die Initiativen, die zur Schaffung der Wanderausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht geführt haben, einer Ausstellung, die inzwischen in einer Anzahl deutscher Großstädte gezeigt worden ist und in der dem Besucher authentisches Material vor Augen geführt wird. Leider aber handelt es sich bei der Ausstellung nicht um eine Regierungsinitiative, und ob sie den Segen der in Deutschland wirklich Mächtigen hat, darf aus verschiedenen Gründen bezweifelt werden.
Kein Wunder also, daß sich durch diese Ausstellung, in der unangenehme Wahrheiten klar ausgesprochen und mit Zeitdokumenten belegt werden, so mancher unverbesserliche Altnazi persönlich provoziert fühlt und im Verein mit Gleichgesinnten gegen diese Ausstellung mobil macht. Ein makabres Geisterspektakel, das dem deutschen Volke am Ende dieses Jahrhunderts wahrhaftig nicht zur Ehre gereicht!
Auch hier könnten wir die oben gestellte Frage nach den Brutstätten des Bösen wiederholen.
Bleibt uns die Hoffnung, daß aus dem europäischen Einigungsprozeß, in den sich auch Deutschland mit viel Initiative einbringt, starke Impulse für eine geistige Erneuerung ausgehen, daß die Irrungen und Wirrungen der deutschen Vergangenheit endlich ehrlich und vollständig aufgearbeitet werden, damit Deutschland für immer einen würdigen Platz in der europäischen Völkergemeinschaft einnimmt. Auch, damit wir nicht eines Tages die Thematik eines weltweiten Literatur-Preisausschreibens noch durch die Frage ergänzen müssen: „Die Zukunft von der Gegenwart befreien?“ Gerade so verstehen wir auch das Vermächtnis des Kriegsteilnehmers Karl Meister:
„Man muß zurückblicken in die Vergangenheit, um das Gegenwärtige so zu meistern, daß es in Zukunft ein Brauchbares wird.“ [4]


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1) Der Verfasser stützt sich auf ein autobiografisches Material des im Jahre 1965 verstorbenen Kriegsteilnehmers Karl Meister.Der Name ist geändert, die geschilderten Situationen sowie die Ortsangaben entsprechen den Tatsachen.

2) Die hier wie auch im folgenden angeführten Seitenangaben [...] beziehen sich auf das Original-Manuskript des Karl Meister,das sich als Erbnachlaß im Privatbesitz des Essayisten befindet. Partiell leichte, jedoch sinnwahrende redaktionelle Bearbeitung desOriginaltextes.

3) Aus der Schonung ist inzwischen (1998) ein Wald mit stattlichen Bäumen geworden. Immer wenn ich auf der Autobahn dort vorbeifahre, muß ich an das damals Geschehene denken.- Der Essayist -

4) Nach meinen Recherchen handelte es sich um amerikanische Flugzeuge des einmotorigen Typs MUSTANG T 51 B und/oder des zweimotorigen Typs MARAUDER B 26 (Bomber), die in England stationiert waren und die u.a. Stör-Einsätze im Raum Weimar flogen.- Der Essayist -

5) Gegenwärtig (April 1998) lebt in Niedergrunstedt noch eine 90jährige Frau, die damals irgendwelche Arbeiten in der Schonung bei der Autobahn verrichtete und dabei ins Schußfeld der Flugzeuge geriet, ohne jedoch getroffen zu werden. Leider ist sie jetzt sehr schwerhörig, so daß eine persönliche Unterhaltung mit ihr nicht sehr ergiebig ist. Sie hat jedoch in der Vergangenheit ihren Kindern und Enkeln über das Erlebte erzählt. Ihre Aussagen stützen vollinhaltlich die von K. Meister gemachten Angaben.

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